Datenberge und Nachhaltigkeit: Wie sollten wir die 251.287 Depeschen auswerten?

Nach der ereignishaften “Enthüllung” Ende Dezember durch die Massenmedien SPIEGEL, Guardian, New York Times, Le Monde und El País ist die Auswertung der Depeschen ins Stocken geraten. Ich vermute, der Grund liegt in der Strategie, die bei der Erschließung des Datenbestands nahe liegt. Ein großer Vorteil der digital vorliegenden Depeschen besteht in ihrer digitalen Durchsuchbarkeit. Die Redaktionen haben eine so nahe liegende wie effiziente Strategie angewandt: Sie haben zunächst nach den Personen, Institutionen und Themen gesucht, mit denen sie sich bereits beschäftigt haben. Spiegel und Guardian haben auf diese Weise bis Ende Dezember rund 150 Geschichten veröffentlicht. Das ist eine ganze Menge. Gemessen an dem zur Verfügung stehenden Material jedoch ist das aber nur ein kleiner Bruchteil.

Ich vermute, dass die rund 3900 Dokumente, die bis heute (22.2.2011) auf WikiLeaks veröffentlicht wurden, von den Redaktionen verarbeitet wurden. Dies vorausgesetzt, lässt sich im Hinblick auf die noch bevorstehende Auswertungsphase eine einfache Rechnung anstellen. Bislang wurden in einem Zeitraum von 2,5 Monaten 1,5 Prozent der Depeschen ausgewertet. Dieses Veröffentlichungstempo vorausgesetzt, würde es also noch sieben Jahre dauern, bis alle Depeschen redaktionell bearbeitet und veröffentlicht sind. In dieser Zeit gibt es jedoch viele Faktoren, die zu einer Beschleunigung oder Verlangsamung der Veröffentlichungsrate beitragen können.

So hat etwa der SPIEGEL ein großes Expertenteam aufgestellt, das sich ausschließlich mit WikiLeaks beschäftigt. Es ist aus rein wirtschaftlichen Gründen unwahrscheinlich, dass dieses Team auch noch in sieben Jahren die Depeschen bearbeitet. Ein weiterer Risikofaktor ist der Prozess von Julian Assange und der weitereFortbestand der Organisation WikiLeaks. Obwohl er ja in ein privat motiviertes Verfahren verwickelt ist, hat er dies inzwischen so eng mit der WikiLeaks-Strategie verknüpft, dass hiervon ein erheblicher Einfluss auf WikiLeaks selbst zu erwarten ist.

Komplexe Themen vs. Nachrichtenwert

Ich habe keine systematische Auswertung vorgenommen, von daher kann ich im Hinblick auf möglicherweise vernachlässigte Themen nur meinen Eindruck wiedergeben, den ich angesichts derZusammenstellung des Guardian bekommen habe. Aufgegriffen wurden die Themen, die einen klassischen Nachrichtenwert haben. Auffällig war dies bei der Auswahl der Titelgeschichte des Spiegel, die die Bewertung bekannter Politiker durch die US-Diplomaten skandalisierte. Die Personalisierung ist eine erfolgreiche Strategie, um das Interesse der Rezipienten zu steigern. Ein weiterer Nachrichtenfaktor war natürlich die Überraschung.

Die Enthüllung der Depeschen selbst war eine Nachricht wert. Unerwartete Ereignisse lösen meist ein besonderes Interesse aus und könnten publikumswirksam inszeniert werden. Die Geschichte über den Auftrag des US-Außenministeriums, UNO-Mitarbeiter auszukundschaften thematisierte eine gesellschaftliche Normverletzung, die auf eine rechtswidrige Handlung zurückging. Das heißt, die Entscheidung basierte auf einer Suchstrategie, die sich an den Nachrichtenfaktoren orientierte.

Eine komplexe Geschichte hingegen wie die Liste der kritischen Infrastrukturen wurde erst sehr viel später publiziert. Aufgegriffen wurde sie von der Tagespresse, die aber nicht die Bedeutung der der Liste hinsichtlich ihrer politisch-strategischen Bedeutung analysierte. Dies hätte in die komplexe Diskussion um die Strategiefindung für den Schutz kritischer Infrastrukturen geführt, die aktuell auf EU- und Bundesebene geführt wird, die aber nur fachlich interessierten Lesern vermittelbar ist.

Ich vermute daher, dass komplexe Themen bei der Auswertung insgesamt vernachlässigt wurden. Sie verlangen deutlich mehr Nachrecherche und Einordnung, sind also aufwändiger in der Aufarbeitung. Ich vermute auch, dass Themen, die nur für Fachöffentlichkeiten interessant sind, ausgeklammert wurden. Aufgefallen ist mir das am Beispiel des Themas “Cyber Security“. Es spielt immer wieder eine Rolle, lässt sich jedoch nur über eine Vielzahl von Depeschen erschließen.

Den Exklusivitätskreis durchbrechen

Für Journalisten, die jedoch keinen Zugriff auf das gesamte Material haben, ist das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Verschiedene Strategien stehen JournalistInnen in dieser Situation zur Verfügung: Beispielsweise könnte man anfangen, die vom Guardian veröffentlichten Metadaten auszuwerten. Das könnte Hinweise auf interessante Policy-Änderungen geben. Für den Zeitraum rund um den 11. September 2001 wurde dies ja bereits vorgenommen. Sie zeigt, dass sich eine solche Analyse lohnen würde. Allerdings müsste man dann anschließend auch in das Material eintauchen können. Und das ist bei der gegenwärtigen Datenlage nur dem exklusiven Kreis von gegenwärtig sieben Redaktionen möglich. Das sind der Spiegel, der Guardian, die New York Times, Le Monde und El País sowie die Aftenposten und Die Welt.

Vor diesem Hintergrund könnten FachjournalistInnen und WissenschaftlerInnen versuchen, eine Kooperation mit den Redaktionen einzugehen, die den Exklusivitätskreis der “Fantastischen Fünf“ durchbrochen haben, also mit der Aftenpostenund der Welt. Dabei sollte von vornherein eine klare Fokussierung auf bestimmte Themen und Fragestellungen erfolgen. Allein das Meta-Thema Policy-Making wäre für Politikwissenschaftler und Historiker hoch relevant. Da in letzter Zeit auch weitere Leaks wie etwa die Palästina-Papiere bei Al-Dschasira und dem Guardian entstanden, könnte man hier verschiedene Positionen und Strategien vergleichen und nach ausgesuchten Fragestellungen analysieren.

Die “Palästina-Papiere“ allein bieten Stoff für mehrere Dissertationen. Aus medienwissenschaftlicher Sicht könnte man untersuchen, inwieweit sich die Sicht der Diplomaten von der Sicht der Journalisten unterscheidet und in welchem Ausmaß sie Themen aufgreifen und vertiefen, die nicht auch von der Presse abgedeckt werden. Damit ließe sich feststellen, inwieweit sich Informationsflüsse im staatlichen Sektor vom öffentlichen Sektor unterscheiden. Frühere Studien haben etwa zum Thema “Open Intelligence“ festgestellt, dass 95 Prozent der Informationen, die Nachrichtendienste verarbeiten, aus öffentlichen Quellen stammen. Bei etwas längerem Nachdenken könnte man sicherlich noch auf viele weitere Themen kommen.

Erschienen in der Berliner Gazette am 22.2.2011