Mythen

Der vierundzwanzigste Tag, 24. August 1991

Wir beugen uns über die Hausreling, um den braunrostigen Pick-up mit den Chromleisten zu begutachten, doch den wirklich faszinierenden, der, mit den sanft nach oben hin zum Dach schwingenden Verladeseiten, sehen wir nicht. Die Wagen haben etwas schweres, behäbiges. Etwas stolzes, breites, selbstbewußtes. Für sie werden standardmäßig vierspurige Straßen gebaut. Eine Steigerung ist die durchgehende Abbiegespur nach links und rechts, auf der sich beide Richtungen gleichberechtigt in der Mitte treffen. Diese Abbiegespuren sind der stolzeste Ausdruck demokratischen Fahrens, der wagemutigste und kühnste. Diese gleich schnell, gleich langsam anfahrenden Wagen hypnotisieren die Zeit, scheinen sie in ihrem Muster der Gleichförmigkeit anzuhalten. Gleichmäßiger Beschleunigungsabstand, gleiche Justierung. Manche sind flotter, doch reihen sie sich bald regelmäßig auf. Dann wieder schnurren sie vor der Ampel zusammen.

Müßig in einem Reisemagazin geblättert: Paul Theroux hatte eines der letzten Abenteuer der Neuen Welt zu einem charmanten, understatementmäßigen Bericht verpackt: die Kanufahrt über Martha’s Vinyard nach Nantucket: den gefährlichen Atlantikströmungen hatte er getrotzt. Gute zwei Tage auf der weiten Ebene der uneinsehbaren Fluten. Und jetzt direkt und unmittelbar sein Erlebnisbericht. Völlig authentisch und glaubhaft. Er hatte es geschafft. Es war möglich. Jeder konnte es, wenn er sich nur ausreichend vorbereitete: ein gutes und leichtes Kajak, das neueste an wärme- und nässe-isolierender Kleidung, genügend Proviant, detaillierte Seekarten und ein bißchen Körpertraining.

Hier ist keine Kühle Neuenglands, doch sind die Türen ebenfalls fliegengesichert. Auf dem etwas aufgesprungen gewölbten Tisch die letzten Regenspuren. Schwere, gewichtige Tropfen. Die Scheibenwischer heftiger, entschieden schneller. Schneller Rückzug in die dunkle Küche hinter die Fliegengittertür, langsame Tropfen.

Die Feuchte staubt heran. Mächtige und vereinzelte Tropfen kündigen Sturzbäche am Straßenrand an. Sie werden breiter, die Reifen drücken das Wasser nach oben, doch der Regen ist lauter, stärker. Ein Prasseln, Detonieren schwerer Wasserbälle. Weißes Aufschäumen. Geraspelte Oberflächen mit weißen Schaumspitzen.Scharfe Kanten. Die Ampeln schalten unablässig im gewohnten Takt. Für sich und die Straßenkreuzer, die sich wie Wasserbrecher den Weg schneiden. Das Wasser schließt sich wieder. Wände fallen in gezackte Fluten zurück. Rot schließendes Wasser grün wallende Fluten.

Speed-Control – on.

Susanne kauft grellfarbene, hartlackierte, gepreßte Zukerwaren. Kleine kompakte Bananen, runde knackige Pfirsiche. Buy two, get one free.

Sie liegen vorne auf dem Ablagebrett. In der Kurve werden sie wieder hinuntergeschleudert. Hinunter zur Road-Map 1991 mit den ungültigen Vouchers, zu verklebten Stadtplänen, aufgewellten Reiseführern und zu den halbaufgerissenen und aufgeweichten Pfefferminzbonbons in der Werbepackung. Susanne sieht mich genervt von der Seite an, und ich tue so, als würde ich nichts merken, und beschleunige weiter, mit dem Finger auf der Taste.

Der Scheibenwischer kommt kaum nach. Ohne sieht man fast mehr. Die Tropfen schließen sich zu einer durchsichtig verwobenen Schicht.

James hatte uns gewarnt. Wasser kann lebensgefährlich sein. Wir müßten unbedingt sehr langsam fahren. Unter Umständen sollten wir anhalten. Und eines noch, Hurricanes sind nicht interessant, spannend oder unangenehm. Er will nie einen erleben. Die Spuren des Úberlebenden genügten.

Der Regen ist der einzige Grund die Speed-Control zu verändern. Immer wieder nach unten korrigiert. Die Sichtweite von höchstens zehn Metern bringt die 55-Meilen-Grenze in den Bereich der Lebensgefahr.

Glitzernder Chrom und schwere breite Regenrinnen im Wasserschatten. Die Trucks sind jetzt die schnellsten. Das Wasser knallt gegen den Unterboden. So plötzlich wie es herunterregnet, so ist auf einmal freie Sicht. Parklandschaften mit nur allmählich wechse lnden Horizonten. Allein die Wolken, das Licht ändern sich ständig. Die einzige Abwechslung auf der Straße sind Autokolonnen, die man mit ein paar Meilen über Speed-Limit überholen kann. So wird man zum Kolonnenführer, wenn nicht andere kommen, die man auf etliche Exits hin verfolgen kann. Wer hat CB-Funk? – Ich habe es nie herausgefunden. Vielleicht der Wagen, der bereits vor einer Waldlichtung – uneinsehbar – abbremst.Hinter ihr stehen tatsächlich zwei Polizeiwagen. Im Einklang mit dem Vorderwagen haben a lle von 80 auf 65 herabbeschleunigt.

Stereo, von vorne und hinten, herzzerreißendes Gestöhne und vielleicht durchlitten. Das kollektive Leiden im individuellen Disaster. Eines Tages wirst du den Richtigen finden, mit ihm ins ewige Glück eingehen. Doch die Suche wird bewertet. Deine Position im Rennen ist dein annual salary. Stolz der Anrufer am Radiotelefon:

I am a 60.000 Dollar man.

That’s quite all right.

I achieved what I wanted.

Susanne schaltet ab und zu abrupt ab. Das Gequake geht ihr auf den Geist. Es sind die immergleichen formelhaften Beschwörungen des Geliebten, der einsamen Nacht, der Hoffnung auf das machbare und verlorene Glück zu zweit. Das Finden und Verlieren.

O Jamie.

Zwischen Tallahassee und Pensacola fahren wir raus, um eine Tankstelle zu suchen, vielleicht einen Coffee shop zu finden. Wir finden beides. Ein Feldweg führt zu Farmen der Red Necks. Die rote Erde verreibt sich lehmig zwischen den Fingern und färbt Straßen und Wege ein. Spanish Moss fällt von Ästen und Zweigen graugrün, fein und fiedrig herab. Unbekanntes Land jenseits der Route. Menschen grüßen uns auf dem Weg. In der Nacht fahren wir erneut von der sicheren Vierspurbahn ab. Kaum ein Auto kommt uns entgegen, eine arme Gegend mit alten, angerosteten Autos, alte Modelle. Wir werden wahrgenommen. Wir halten uns nicht lange auf: volltanken und weiter.