Am Abgrund

Der neunzehnte Tag, 19. August 1991

Im Showcase die Welt gesehen und Deutschland besucht. Ein mittelalterlich schwüles Deutschland. Dumpf und dunkel im Biergarten, erleuchtet durch einen Glühbirnchenhimmel. In Fachwerkhäusern aus Plastik prostituieren sich blonde und blauäugige Deutsche in stilisierten Dirndln und Lederhosen. Sie verkaufen mit forciert deutschem Akzent Postkarten und Kuckucksuhren: Rollendes R und beißendes S, ein Englisch, wie man es nur kurz nach dem Krieg noch lernen konnte. Vor dem roten Plüschvorhang, der sich quer durch ein aufgeschnittenes Fachwerkhaus spannt, spielt die Blaskapelle. Deutsche Gemütlichkeit, luschtig Besoffene mit Pretzln und Beer. Postkarten von bayerischen Schlössern und unversehrten Städten, allein die Moderne zeigt sich in der Berliner Mauer – die es nicht mehr gibt – und als Frankfurt am Main bei Nacht. Die Bahlsen-Kekse zerstauben in der drückenden Schwüle, der matten Freundlichkeit. Die ersehnte und heiß vermißte Bäckerei, endlich ein gutes Brot, lekeren Kuchen, finde ich nicht. Die Weimarer Klassik hat es nie gegeben. Unterkellerte Folterkammern in den Köpfen, Nazischeinwerfer und geniale Wissenschaftler von blonden Frauen begleitet. Vor einigen Jahren haben sie kleine Maschinengewehre aus Plastik an Kinder verkauft. Amerika hingegen im leuchtend weißen Kleid, im Strahlen der Aufklärung und der Fortschrittlichkeit. Wie hell und freundlich das mittelalterliche England, wie anrührend und charmant das kleine Frankreich, wie offen und fröhlich das sonnengelbe Italien und ruhig und zurückhaltend das sandigweise, vornehme Marokko. Alles ist mir auf einmal lieber als die Rückkehr nach Deutschland, eine Ende der Fahrt nicht zu sehen. Schmerzhaft sticht es in meinen Magen, als ein Gemüsehändler uns beiläufig am Straßenrand erzählt, ob wir schon gehört hätten, Gorbatschow sei von den rechten Hardlinern gestürzt worden. Keiner weiß genaueres. Ein Putsch. Militär? Man spekuliert, könnte sein. Wer könnte eine Wende bringen? Verfahrene Situation. Gorbatschow stand zuletzt mit dem Rücken zur Wand. Vielleicht Jeltzin, die letzte Hoffnung? Er hätte ja schon länger damit gerechnet. Irgendwas müßte passieren. Da ist jetzt eine Menge los, drüben in Europa. Aufregende Zeiten. Mit Deutschland wäre es ja nicht so rosig. Die Sowjetunion hätte den Vereinigungsvertrag noch nicht ratifiziert. Genaueres weiß er nicht. Wir müßten uns jedoch keine Sorgen machen, die USA stände unter nuklearem Voralarm. Ob wir da hinten den Kreuzer sähen? Der gehört zu der nahtlosen Überwachung des Luftraums. Und schrägnach rechts, da ist noch mal einer. Schnelle Reaktion, das müsse man den Jungs schon lassen. Hier wären wir sicher. So schnell kommen die nicht her. Wer weiß, was die mit ihrem Atomarsenal jetzt machen. Das Gemüse könnten wir nur körbchenweise kaufen, er verkauft nur Körbchen, keine Kilos. Wir könnten uns ja eine Gemnüsekombination frei aussuchen. Eine Paprika und drei Tomaten. Drei Kartoffeln und eine Gurke. Zwei Auberginen und eine Paprika. Oder drei Zucchinis und eine Tomate? Jedes Körbchen kostet gleich viel. Das ist sein System. Wir kaufen nichts, das Gemüse hat seinen Geschmack verloren. Das Radio schweigt sich aus, die Zeitungen überlegen sich, ob eine neue Flüchtlingswelle Kubaner das Land bedroht. Kein Wort über Deutschland, das auf einmal so verletzlich nahe an der Raketenabschußbasis liegt. Das Visum läuft ab. Ich weiß nicht mehr, warum ich hierher wollte, warum ich alles verlassen wollte.