Pfade

Der fünfte Tag, 5. August 1991

Wir begeben uns wieder zu dem Coffee-shop gleich unten an der Ecke, 17te Straße, dritte Avenue. Zwei Stunden halten wir uns auf. Home-fries und drei sunny-side-up-and-flipped. Coffee. Die home-fries schwimmen in Fett, an den Rändern sind sie schon etwas schwarz, doch die sunny-side-ups sind gut geflippt. Kein einziges ist aufgebrochen, das Eigelb noch intakt. Erst nach dem zweiten re-fill werde ich langsam wach. Schräg gegenüber uns der Tischnachbar von gestern. Auch das Pärchen am Fenster habe ich schon die letzten Tage hier gesehen. Die Wege kreuzen sich, jeder verfolgt seine Trampelpfade, weicht nur schrittweise ab. Die Reisenden begehen manche Seitenwege, die Einheimische nie betreten würden, weil die außerhalb ihres Plans liegen. Als wir in die Bronx wollten, nahmen wir die falsche Subway. Wir zählten die Stationen ab und stiegen, ohne es zu wissen, in Sugar Hill aus. Die Hautfarben waren mit der Höhe der Straßen immer dunkler geworden, die Blicke zunehmend auf uns gerichtet, verwunderte Blicke. Wir waren die Letzten, Weißen. Wir zählten die Straßen ab und suchten unser Museum, doch es waren nur Wohnhäuser zu sehen. Querstraßen gingen ab, die nicht auf dem Plan verzeichnet waren. Die Karte schien ein Redesign nötig zu haben, die Autoren des Reiseführers einen Leserbrief. Ein gütiger Gemischtarenhändler klärte uns auf: ihr seid in Harlem, Mam. Als wir dann aus Versehen weiter nach Norden fuhren und dem Ausgang in der 155sten Straße zustrebten, ließ uns der Mann im token-booth nicht weitergehen. You are wrong, totally wrong – mitten in Harlem. Der Weg zurück war unangenehm, denn jetzt wußten wir, daß wir von dem uns zugestandenen Pfad abgekommen waren und niemand für unsere Sicherheit garantieren mochte. Und das in einem Land, in dem jeder Schritt genau vorgeschrieben wird, damit alle dieselben Chancen erhalten, das Richtige zu tun.
Ein Gast hinter mir, eine durchdringende, gelangweilte männliche Stimme, hatte zwar den richtigen Weg, aber die falsche Zeit gewählt: „I expected him to come out. Yeah, at the apartment-house at Central Park. I’ve been waiting for hours and hours. But John Lennon didn’t come out. That pissed me off …“ Nach einer Weile: „Yah, he died this winter.“ – Selten vereinen sich Ort und Zeit aus unterschiedlichen Richtungen, ohne Absprache . Wie ein dèjá vu kam es mir deshalb vor, als ich das blonde, kurzhaarige Mädchen mit der modischen Indianerjacke aus dem Greyhound-Bus „New York-Washington D.C.“ in einer Straße in Chinatown S.F. sechs Wochen später wiedersah. Kein Zweifel. Sie hatte eine Zeichenmappe in der Hand und sprach mit einem Galeristen. In diesem Moment schrumpften acht Wochen Fahrt auf zwei Orte zusammen, auf einen weichgepolsterten Sitz im Bus und ein paar Meter chinesisches Land auf amerikanischem Boden. Der Kontinent wurde zu einem kleinen Dorf.
Im Coffee-shop in der Columbus Avenue entscheide mich wieder für home-fries, heute nur mit einem Ei. Doch dafür gibt es anstatt der toasts mit marmelade diesmal pancakes mit Ahornsirup. Und morgen Frühstück beim Chinesen.