Die Bilderwelten des japanischen Studio Ghibli lassen lange nicht los – Himmelsflüge, Abstürze, seltsame Wesen, wandelnde Häuser. Und Mädchen, die „against all odds“ zu Heldinnen werden. Zeit für eine winzige Hommage an seinen Gründer Hayao Miyazaki.
Das Fliegen hat es Hayao Miyazaki angetan. Während des 2. Weltkriegs wurde er als Sohn eines Flugzeugbauers in Tokio geboren. Damit ist eigentlich schon das Hauptmotiv seiner Filme benannt: Phantastische Flüge mit abenteuerlichen Gerätschaften, die teilweise dramatisch enden und doch immer auch die wunderbare Leichtigkeit des Fliegens suggieren.
Fliegen!
In „Das Schloss im Himmel“ von 1986 inszeniert Miyazaki atemberaubende Verfolgungsjagden auf großen und kleinen Flugmaschinen, die mit zerstörerischen Waffen ausgerüstet auf trickreiche Weise an ihr Ziel gelangen. In regelmäßigen Abständen stürzen die Protagonisten ab, um in letzter Sekunde gerettet zu werden, oder eilen durch dramatische Landschaften. Der Showdown findet sich auf einer fliegenden Insel namens Laputa (eine literarische Erfindung des überaus gesellschaftskritischen Jonathan Swift!), die jeglicher technischen Zivilisation entrückt zu sein scheint – und es natürlich nicht ist.
1989 lässt er in „Kikis kleiner Lieferservice“ die kleine Hexe Kiki auf ihrem Besen neue Gegenden erkunden – und das Schönste ist genau das: Bei Sonnenschein über englisch anmutende Landschaften jagen, die sich jäh in finstere Wälder verwandeln, aus denen verärgerte Krähen zum Angriff ansetzen; im Mondlicht über glitzernde Kleinstädte schweben, aus denen von Ferne noch Stimmen und Musik erklingen. Weil Kiki eigentlich nichts anderes als Fliegen kann, gründet sie einen fligenden Lieferservice.
Ein Junge ist von Kiki, oder genauer, von ihrer Fliegerei, so fasziniert, dass er es selbst mit einem mit einem Propeller und Flügeln aufgemotzten Fahrrad versucht. Für kurze Zeit klappt es sogar, er hebt ab, um nur umso fürchterlicher wieder auf dem Boden zu landen. Der halsbrecherische Flug endet vor, was wohl?, einem Luftschiff, das wenig später auf dramatische Weise über einer Stadt abstürzen wird. Das besondere an dem Film ist neben den fantastischen Zeichnungen der Ton, der über zahlreiche Nuancen wie einer Radiostimme, dem Raum noch mehr Tiefe verleiht.
Gänzlich unabhängig von Fluggeräten kommen die Protagonisten in „Das wandelnde Schloss“ von 2004 aus. Hier sind es feindliche Zaubermächte, die sich in fliegenden, waffenstarrenden Festungen verschanzen, die in Schwärmen die idyllischen Wohngegenden der Menschen überfallen. Gleichwohl sind sie dem Zauberer Ha’uro letztendlich unterlegen. Er kann sich in einen fliegenden, aber gleichwohl verletzbaren Vogel verwandeln, der, anders als die „kalte Technik“ der feindlichen Zauberer, sich von der Liebe des in eine alte Frau verzauberten Mädchens Sophie retten lassen darf.
Über eigene Flugkräfte verfügt auch Flussgott Haku in „Chihiros Reise ins Zauberland“ von 2001, der die Protagonistin Chihiro rettet. Der mit einem Oskar ausgezeichnete Film sticht insofern aus den bisher genannten Filmen hervor, als dass das Fliegen hier keine so dominante Rolle spielt. Das Besondere ist hier auch die von der Shinto-Kultur durchdrungenden japanischen Landschaft, die über Nacht ihr Aussehen dramatisch verändern kann.
Dramatische Idyllen
Die Landschaft ist ein zweites, herausragendes Element in Miyazakis Filmen. Meist sind sie durch eher exotisch gefärbte bzw. europäisch anmutende Landschafts- und Architekturelemente geprägt – durchgezeichnet bis ins letzte Detail. Im „Schloss im Himmel“ durchqueren die Protagonisten in rasender Geschwindigkeit Gebirge mit italienisch anmutenden Kleinstädten und Bergdörfern sowie südenglische Parklandschaften mit trutzigen Burgen. Als Inbegriff des Wohlbehagens und der Sicherheit tauchen immer wieder in stattliche Architektur gefasste Städte auf, die an die Schweizer Hauptstadt Bern erinnern. „Kikis kleiner Lieferservice“ könnte einem Schweizer Postkartenalbum entsprungen sein, aber auch die Geschichte des „wandelnden Schlosses“ nimmt in einer an Bern anmutenden Stadt ihren Ausgang. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Miyazaki in den frühen 70er Jahren an der Umsetzung der Fernsehserie „Heidi“ maßgeblich beteiligt war.
Von Alten …
Keine Erklärung findet sich in Miyazakis Biographie jedoch für eine weitere Eigenart seiner Filme: Alte Frauen. Sie spielen immer wieder eine dominante Rolle: Im „Schloss im Himmel“ führt eine resolute Alte eine Bande von Luftpiraten an, in „Chihiros Reise“ zeigen sich zwei alte Hexen in beeindruckender Hässlichkeit und auch im „wandelnden Schloss“ finden sich zwei alte Frauen – die in eine Greisin verwandelte gütige Sophie sowie die böse Hexe, die mit schwindender Macht zusehends altert und verfettet. Übrigens kommt auch „Kikos Lieferservice“ nicht ohne eine alte Dame aus – hier ist es eine gütige Großmutter einer verwöhnte Göre. Wenn es also einmal einen Film aus den Ghibli-Studios geben sollte, in dem eine Heldin gerade einmal nicht fliegt, so wird es sicherlich wieder eine hässliche Alte geben. Vielleicht könnte es ja doch eine prägende zeichnerische Erfahrung gegeben haben, ein Ur-Motiv für die vielen alten Frauen: Heidis blinde Großmutter. Ist jetzt aber nur eine Spekulation.
Eine mögliche andere Erklärung für die vielen alten Frauen könnte in der Geschichte des Anime verborgen liegen. Der älteste existierende japanische Trickfilm (1924) heißt Obasuteyama, zu Deutsch: „Der Berg, an dem alte Frauen zurückgelassen werden“. Die Legende von Obasuteyama handelt davon, dass früher alte Frauen bewusst in der Einöde der Berge zurückgelassen wurden, um dort zu sterben. Dieses Motiv findet sich übrigens auch bei den kanadischen Indianern und hat in jüngster Zeit die wunderbare Geschichte von den „zwei alten Frauen“ hervorgebracht. Zurückgelassen von ihrem Stamm sterben sie nicht an Kälte und Hunger, sondern beginnen – gezwungenermaßen – ihr Leben wieder selbständig in die Hand zu nehmen. Am Ende sind sie es sogar, die ihren Stamm retten.
… und Eltern
Eltern spielen kaum eine, und wenn, dann eher eine sehr unrühmliche, teilweise sogar unheimliche Rolle in Miyazakis Filmen. Chihiros Eltern etwa zeigen sich nicht nur völlig unberührt von den Ängsten ihrer Tochter, sie können auch ihre Umgebung samt ihren Gefahren nicht wirklich wahrnehmen. Dass sie in ihrer Gier deshalb zu Schweinen verwandelt werden – und davon sowie von ihrer eigenen Rettung durch ihre Tochter nicht einmal etwas bewusst mitbekommen – ist in seiner Bitterkeit nicht nur der Dramaturgie der Geschichte geschuldet. Sie ist auch eine kaum zu überbietende Kritik eines Erziehungsstils, der darauf angelegt ist, zur Aufrechterhaltung eines gewissen „way of life“ Sensibilitäten jeglicher Art zu unterdrücken. Insofern verbirgt sich in der Darstellung der Eltern, und nicht unbedingt in den Geistern, der wahre Horror von „Chihiros Reise ins Zauberland“.
Bei aller Gesellschaftskritik handelt es sich bei Miyazakis Filmen aber um filmische Entwicklungsromane vor phantastischer Kulisse. Das große Motiv sind nämlich junge Heldinnen, die die Freiheit wagen, die ihre Ängste überwinden, ihre Herkunft erfahren und sich selbst entdecken. Ein Grund mehr, die Filme einfach zu lieben. Er tat wohl recht damit, jegliche Änderungen seiner Filme und damit den Export seiner Werke zu verbieten. Nur schade, dass er deshalb nicht schon viel früher „im Westen“ richtig bekannt wurde.
Weiterlesen
- Lisette Gebhardt: Zarte Unschuld rettet Japan: Miyazaki Hayaos erfolgreichster Trickfilm – Sen to Chihiro no kamikakushi, Universität Trier, Februar 2002, http://www.uni-trier.de/uni/japanologie/AkBesp.html