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Mangelserie

Dieses Schaufenster fotografierte ich 1991 in Prag. Es war wohl ein Bücherladen, der hier für ein einziges Produkt warb – ganz in der Ästhetik der Mangelwirtschaft: Das, was am Begehrenswertesten schien, wurde massenhaft ausgestellt, um zu zeigen: Wir haben es. Was mich damals so irritierte war, dass es kurze Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgerechnet diese amerikanische Fernsehserie war.

Hommage an Hayao Miyazaki

Die Bilderwelten des japanischen Studio Ghibli lassen lange nicht los – Himmelsflüge, Abstürze, seltsame Wesen, wandelnde Häuser. Und Mädchen, die „against all odds“ zu Heldinnen werden. Zeit für eine winzige Hommage an seinen Gründer Hayao Miyazaki. 

Das Fliegen hat es Hayao Miyazaki angetan. Während des 2. Weltkriegs wurde er als Sohn eines Flugzeugbauers in Tokio geboren. Damit ist eigentlich schon das Hauptmotiv seiner Filme benannt: Phantastische Flüge mit abenteuerlichen Gerätschaften, die teilweise dramatisch enden und doch immer auch die wunderbare Leichtigkeit des Fliegens suggieren.

Fliegen!

In „Das Schloss im Himmel“ von 1986 inszeniert Miyazaki atemberaubende Verfolgungsjagden auf großen und kleinen Flugmaschinen, die mit zerstörerischen Waffen ausgerüstet auf trickreiche Weise an ihr Ziel gelangen. In regelmäßigen Abständen stürzen die Protagonisten ab, um in letzter Sekunde gerettet zu werden, oder eilen durch dramatische Landschaften. Der Showdown findet sich auf einer fliegenden Insel namens Laputa (eine literarische Erfindung des überaus gesellschaftskritischen Jonathan Swift!), die jeglicher technischen Zivilisation entrückt zu sein scheint – und es natürlich nicht ist.

1989 lässt er in „Kikis kleiner Lieferservice“ die kleine Hexe Kiki auf ihrem Besen neue Gegenden erkunden – und das Schönste ist genau das: Bei Sonnenschein über englisch anmutende Landschaften jagen, die sich jäh in finstere Wälder verwandeln, aus denen verärgerte Krähen zum Angriff ansetzen; im Mondlicht über glitzernde Kleinstädte schweben, aus denen von Ferne noch Stimmen und Musik erklingen. Weil Kiki eigentlich nichts anderes als Fliegen kann, gründet sie einen fligenden Lieferservice.

Ein Junge ist von Kiki, oder genauer, von ihrer Fliegerei, so fasziniert, dass er es selbst mit einem mit einem Propeller und Flügeln aufgemotzten Fahrrad versucht. Für kurze Zeit klappt es sogar, er hebt ab, um nur umso fürchterlicher wieder auf dem  Boden zu landen. Der halsbrecherische Flug endet vor, was wohl?, einem Luftschiff, das wenig später auf dramatische Weise über einer Stadt abstürzen wird. Das besondere an dem Film ist neben den fantastischen Zeichnungen der Ton, der über zahlreiche Nuancen wie einer Radiostimme, dem Raum noch mehr Tiefe verleiht.

Gänzlich unabhängig von Fluggeräten kommen die Protagonisten in „Das wandelnde Schloss“ von 2004 aus. Hier sind es feindliche Zaubermächte, die sich in fliegenden, waffenstarrenden Festungen verschanzen, die in Schwärmen die idyllischen Wohngegenden der Menschen überfallen. Gleichwohl sind sie dem Zauberer Ha’uro letztendlich unterlegen. Er kann sich in einen fliegenden, aber gleichwohl verletzbaren Vogel verwandeln, der, anders als die „kalte Technik“ der feindlichen Zauberer, sich von der Liebe des in eine alte Frau verzauberten Mädchens Sophie retten lassen darf.

Über eigene Flugkräfte verfügt auch Flussgott Haku in „Chihiros Reise ins Zauberland“ von 2001, der die Protagonistin Chihiro rettet. Der mit einem Oskar ausgezeichnete Film sticht insofern aus den bisher genannten Filmen hervor, als dass das Fliegen hier keine so dominante Rolle spielt. Das Besondere ist hier auch die von der Shinto-Kultur durchdrungenden japanischen Landschaft, die über Nacht ihr Aussehen dramatisch verändern kann.

Dramatische Idyllen

Die Landschaft ist ein zweites, herausragendes Element in Miyazakis Filmen. Meist sind sie durch eher exotisch gefärbte bzw. europäisch anmutende Landschafts- und Architekturelemente geprägt – durchgezeichnet bis ins letzte Detail. Im „Schloss im Himmel“ durchqueren die Protagonisten in rasender Geschwindigkeit Gebirge mit italienisch anmutenden Kleinstädten und Bergdörfern sowie südenglische Parklandschaften mit trutzigen Burgen. Als Inbegriff des Wohlbehagens und der Sicherheit tauchen immer wieder in stattliche Architektur gefasste Städte auf, die an die Schweizer Hauptstadt Bern erinnern. „Kikis kleiner Lieferservice“ könnte einem Schweizer Postkartenalbum entsprungen sein, aber auch die Geschichte des „wandelnden Schlosses“ nimmt in einer an Bern anmutenden Stadt ihren Ausgang. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Miyazaki in den frühen 70er Jahren an der Umsetzung der Fernsehserie „Heidi“ maßgeblich beteiligt war.

Von Alten …

Keine Erklärung findet sich in Miyazakis Biographie jedoch für eine weitere Eigenart seiner Filme: Alte Frauen. Sie spielen immer wieder eine dominante Rolle: Im „Schloss im Himmel“ führt eine resolute Alte eine Bande von Luftpiraten an, in „Chihiros Reise“ zeigen sich zwei alte Hexen in beeindruckender Hässlichkeit und auch im „wandelnden Schloss“ finden sich zwei alte Frauen – die in eine Greisin verwandelte gütige Sophie sowie die böse Hexe, die mit schwindender Macht zusehends altert und verfettet. Übrigens kommt auch „Kikos Lieferservice“ nicht ohne eine alte Dame aus – hier ist es eine gütige Großmutter einer verwöhnte Göre. Wenn es also einmal einen Film aus den Ghibli-Studios geben sollte, in dem eine Heldin gerade einmal nicht fliegt, so wird es sicherlich wieder eine hässliche Alte geben. Vielleicht könnte es ja doch eine prägende zeichnerische Erfahrung gegeben haben, ein Ur-Motiv für die vielen alten Frauen: Heidis blinde Großmutter. Ist jetzt aber nur eine Spekulation.

Eine mögliche andere Erklärung für die vielen alten Frauen könnte in der Geschichte des Anime verborgen liegen. Der älteste existierende japanische Trickfilm (1924) heißt Obasuteyama, zu Deutsch: „Der Berg, an dem alte Frauen zurückgelassen werden“. Die Legende von Obasuteyama handelt davon, dass früher alte Frauen bewusst in der Einöde der Berge zurückgelassen wurden, um dort zu sterben. Dieses Motiv findet sich übrigens auch bei den kanadischen Indianern und hat in jüngster Zeit die wunderbare Geschichte von den „zwei alten Frauen“ hervorgebracht. Zurückgelassen von ihrem Stamm sterben sie nicht an Kälte und Hunger, sondern beginnen – gezwungenermaßen – ihr Leben wieder selbständig in die Hand zu nehmen. Am Ende sind sie es sogar, die ihren Stamm retten.

… und Eltern

Eltern spielen kaum eine, und wenn, dann eher eine sehr unrühmliche, teilweise sogar unheimliche Rolle in Miyazakis Filmen. Chihiros Eltern etwa zeigen sich nicht nur völlig unberührt von den Ängsten ihrer Tochter, sie können auch ihre Umgebung samt ihren Gefahren nicht wirklich wahrnehmen. Dass sie in ihrer Gier deshalb zu Schweinen verwandelt werden – und davon sowie von ihrer eigenen Rettung durch ihre Tochter nicht einmal etwas bewusst mitbekommen – ist in seiner Bitterkeit nicht nur der Dramaturgie der Geschichte geschuldet. Sie ist auch eine kaum zu überbietende Kritik eines Erziehungsstils, der darauf angelegt ist, zur Aufrechterhaltung eines gewissen „way of life“ Sensibilitäten jeglicher Art zu unterdrücken. Insofern verbirgt sich in der Darstellung der Eltern, und nicht unbedingt in den Geistern, der wahre Horror von „Chihiros Reise ins Zauberland“.

Bei aller Gesellschaftskritik handelt es sich bei Miyazakis Filmen aber um filmische Entwicklungsromane vor phantastischer Kulisse. Das große Motiv sind nämlich junge Heldinnen, die die Freiheit wagen, die ihre Ängste überwinden, ihre Herkunft erfahren und sich selbst entdecken. Ein Grund mehr, die Filme einfach zu lieben. Er tat wohl recht damit, jegliche Änderungen seiner Filme und damit den Export seiner Werke zu verbieten. Nur schade, dass er deshalb nicht schon viel früher „im Westen“ richtig bekannt wurde.

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Ein Wochenende drüben

Per Mitfahrzentrale Richtung Grenze.
Hof: zum Teil schon abgebaute Grenzanlagen, verlassene Wachtürme.
Zum ersten Mal vom Transit runter.

Jena

über eine kleine Landstrasse nach Jena-Lobeda, ein endlos langes Wohnviertel: Altneubauten. Nahe dem Zentrum liess uns die Fahrerin raus, um weiter nach Berlin zu fahren. Erster Gedanke: keine Luft. Eine Mischung aus Braunkohle- und Trabbiduft schlägt uns entgegen. Zweiter Gedanke: kein Geld. Zur Staatsbank gepilgert. Dort eine riesenlange Schlange vor dem Schalter „Reisegeld“, zwei kleine Schlangen für „Barumtausch“. Sie schickten uns dann jedoch nach vorne: „Die Personen mit den D-Mark sollen doch bitte …“ – peinliche Sonderbehandlung für Devisenträger! Niemand murrte.

Zimmersuche

Zum Jena-Info, Stadtplan besorgt. Auf eine Anzeige dieser Touristinformationsstelle hin hatten sich einige Bürger gemeldet, die eine kostenlose übernachtungsstelle für Bundesbürger zur Verfügung stellten. Zwei Adressen nahmen wir vorsorgehalber mal mit. Eigentlich wollten wir einen Freund besuchen, den wir allerdings vorher weder schriftlich, noch telefonisch (Telefone gibt es nur Priviligierte, Pfarrer, Schwerkranke…) erreicht hatten. Risiko. Wir versuchten es einfach. Mit der Tram hingefahren, die auf den verzogenen Schienen wie auf wogenden Wellen auf- und abschwankte und einen Höllenlärm machte. Haus gesucht, gefunden, geklingelt. Keinerda. Sofort waren zwei Nachbarn zur Stelle, die uns gleich bereitwillig Auskunft gaben: sie hätten den Gesuchten nun schon länger nicht mehr gesehen, ob er überhaupt wieder kommt? – Ein Fenster ging auf, wen wir suchten? Herrn Meyer? Wir könnten ja vielleicht seine Freundin oder Frau oder …? in der Arbeit erreichen ?? – Neugierig … Später, in Leipzig, erzählte uns jemand von einem Fund auf dem Dachboden des Stasi-Gebäudes in Berlin: ein Karteikasten aus dem Jahre 1973, der alphabetisch nach Strassennamen geordnet war, zu jeder Strasse die Hausnummern, und zu jeder Nummer die Bewohner, z.T. mit Bemerkungen versehen: „erzählt ausführlich“, „weiss gut Bescheid über die Nachbarn“,“empfängt oft Besuch“, „linientreu“, usw.

Im „Roten Hirsch“ zu Abend gegessen. Aufgrund unseres forschen Auftretens (Frage: „Wo gibt’s denn hier noch Platz? Wo ist denn hier der Kellner?“) wurden wir sofort als Westler identifiziert. An unserem Tisch ein ehemaliger Ballettänzer. Weil er nicht mehr gewachsen war, wurde er Packer. Jetzt will er in den Westen: Geld verdienen und dann mit seiner Freundin ein paar Jahre sich die Welt anschauen.

Danach die 1. Adresse vom Jena-Info angesteuert: von einer Nachbarin erfahren, dass es eine Conny schon gäbe, ihr „so was“ (wie Bundis für eine Nacht aufzunehmen) schon zuzutrauen wäre, der Nachname wäre aber falsch. Von anderen Nachbarn wiederum erfuhren wir, dass sie geschieden war, ihr Mann die Kinder eben geholt hätte und sie heute abend wohl nicht mehr kommen würde. Einer fuhr uns dann sogar mit seinem Uralt-Chicago-Gangster-Wartburg zur nächsten Adresse. Dort hatten sie noch nie vom Jena-Info gehört. Ein Telefon, wie angegeben, hatten sie auch nicht. Die Telefonnummer angerufen. Dort wollten sie auch lediglich nur eine Kontaktadresse im Westen. übernachten? Nein, danke. – Was die anderen übernachtungsangelegenheiten anbelangt, sie waren ausgebucht oder zu teuer.

Schliesslich fuhren wir nach Saalfeld zu anderen Freunden. Jena hatte unsere schlimmsten Erwartungen erfüllt.

Leipzig

Mit der Bahn (DR = Dein Risiko) nach Leipzig. Mir gegenüber sass einer, die Einkaufstasche hing am Kleiderhaken aus der das Orangennetz oben herausspitzelte, auf dem Gepäckträger die Plastiktüte eines Münchner Elektro-HiFi-Computer-Geschäfts. Er löste Kreuzworträtsel in einem Revolverblatt, darunter ein Stapel Reisezeitschriften. Drei Bierdosen-West standen auf der Heizung. Wie aus dem deutsch-deutschen Bilderbuch.

Ankunft. Leipzig. Dämmerung. Das Zimmervermittlungsbüro am Bahnhof geschlossen: Sonntag. In der Telefonzelle: kein Telefonbuch. Zum Vermittlungsamt, dort fündig geworden. Das Jugendtouristhotel angerufen. Zimmer frei. Aufatmen. Auch nur, weil eine Gruppe abgesagt hatte.

In letzter Minute bekamen wir noch zwei – nichtabgeholte – Karten im Kellertheater für „Heute abend: Lola Blau“. Von anderen Besuchern erfuhren wir später, dass sie die Karten für diese Vorstellung schon 1987 bestellt hatten! Zur Zeit gäbe es jedoch sogar bei den „Akademixern“ Karten an der Abendkasse, die Leute hätten wohl genug anderes zu tun.

Obwohl gut gespielt, gab es erstaunlich wenig Applaus, sehr zurückhaltend, keine Lacher, obwohl es durchaus einige witzige Situationen gegebenhätte. Bis vor kurzem oder vielleicht sogar auch jetzt noch hatte es immer einige Stasi-Leute gegeben, die in den Stücken mitschrieben, Leute notierten, die zum falschen Zeitpunkt lachten. Eine ziemlich steife Atmosphäre. Immer noch. Am Schluss zusammen mit zwei anderen Frauen auf die Garderobe gewartet. – Wo denn die Moritzbastei sei? – Sie brachten uns hin, allerdings wurden wir in diese In-Kneipe Leipzigs nicht mehr eingelassen: vor einer halben Stunde war Einlassschluss. Drinnen Underground-Music. Inge: Kreuzberg kommt jetzt zu uns. Trotzdem, um viertel vor elf tote Hose.

Die beiden luden uns zu sich nach Hause ein. Beide sind Liedermacherinnen: „Frey & Frank“. Im Moment lebten sie nur von ihren Auftritten: ca. fünf im Monat. Das würde wohl zukünftig anders werden, mit steigenden Mieten, Lebensmittelpreisen, usw.. kämen sie dann nicht mehr so einfach über die Runden. Sie spielten uns ein neues Band vor und erzählten uns sehr viel über die Schule, über ihr Leben hier als Musikerinnen.In ihrer Schulzeit hätte Inge auch einmal ein Referat halten müssen: Jazz unter dem Aspekt des revolutionären Kampfes der ausgebeuteten Schwarzen gegen die weissen Imperialisten oder so ähnlich. Sie beschränkte sich aber auf die Musik selber. Beim Erzählen wurde ihnen klar, wieviel ihnen in ihrem Leben eigentlich vorenthalten worden war, wieviele Zwänge sie einfach akzeptiert hatten, sich angepasst hatten, weil es keine Alternativen gab. Es wurde noch eine lange Nacht. Am Morgen, als wir gingen, fragten sie uns, ob wir schon jemand hätten, mit dem wir auf die Demo gingen – es war Montag, 15. Januar.

Montag – Demotag

Die Litfasssäule auf dem Karl-Marx-Platz ist die einzige grössere, offizielle Anschlagmöglichkeit neben dem Informationsstand in der Nicolai-Kirche – „offen für alle“. Am Morgen hing schon wieder einiges Neues dran: Manifeste, Gründungsaufrufe, Berichte von der sanften Revolution, ein Aufruf zur „Lust-am-Leben-Demo“. Und eine kleine Menschentraube hatte sich auch eingefunden, hungrig nach direkter, nicht von SED-Verlagen und -Druckereien kontrollierter Information. Mittagessen in irgendeinem Restaurant. Mit einem DDR-Ehepaar sassen wir zusammen am Tisch. Wie sich bald herausstellte war sie Grundschullehrerin für Deutsch und Mathematik. Ihre Kollegen mit Staatsbürgerkunde oder Geschichte hätten es jetzt schon schwer. Keine Lehrpläne, keine Lehrmittel, Unsicherheit überall: darf man noch „Freundschaft“ sagen, das Lied von der „Kleinen weissen Taube“ singen? Als ich meinte, dass es jetzt wohl für viele ziemlich hart ankommen müsste, nachdem sie 40 Jahre für diesen Staat gearbeitet hätten, an ihn geglaubt hätten, nun feststellen zu müssen, dass sie eigentlich immer nur betrogen worden waren, sagte er leise, „ja, ich habe auch die Mauer mitgebaut“, als NVA-Soldat. Er ist noch immer dabei. Besonders desillusionierend für die beiden war, als sie im Fernsehen sahen, dass ihre Oberen in Wandlitz wie im Westen lebten, jedoch zugleich sozialistische Gleichheit und Brüderlichkeit propagierten. Auch ihr Kurztrip in den Westen: beschämend das Begrüssungsgeld abzuholen und dann in einem Grenzort in einem menschenleeren, übervollen Supermarkt zu stehen. – Am Ende des Essens meint er nur zur Kellnerin: Alles auf eine Rechnung.

Friedensgebet in der Nikolaikirche

Als Polittouristen natürlich um 17.00 Uhr zum legendären Friedensgebet in der Nikolai-Kirche. Nur noch auf der ober- sten Empore Platz gefunden. Oben und unten standen Fotographen in Westklamotten, vorne waren Fernsehkameras und Scheinwerfer postiert. Der Pfarrer meinte, schade, dass sich nur die westliche Presse für das hier interessiert, die eigene offenbar nicht. Sie würden sich freuen, mal ein paar Bilder von der Andacht zu bekommen. Zuanfang wurde geklärt, dass heute abend keine Kundgebung stattfinden würde (die letzte war etwas entgleist), dass … noch mehr organisatorisches. Die Fürbitten. Für sich selber, dass die Fronten nicht verhärten, dass sie ihren Gegnern verzeihen. Für alle, den Dialog mit dem Staat weiterzuführen, sich nicht vom West-Konsum einkaufen zu lassen, mit offen Augen ihren eigenen Weg und die wirklich wahren Werte zu suchen… Noch nie hatte ich einen so spannungsgeladenen, politischen Gottesdienst erlebt.

Demo

Im Menschenstrom zur Demo. Plötzlich auf dem Karl-Marx-Platz. Menschenmassen mit Deutschlandfahnen: DDR-Fahnen ohne Emblem, jetzt überall ausverkauft. Von weitem Rufe zu hören. Dann lauter: „Einheit – Einheit“. Ein beklemmendes Gefühl. Denke an zu Hause, wo man jetzt höchstens vor dem Fernseher sitzt. An der Post treffen wir Inge und Delia von gestern Nacht. Gemeinsam schrauben wir das Transparent zusammen: „Neues Forum?-ja!-Grüne?-ja!-SED???-nein!“

Es geht nun den Altstadtring entlang, am – ehemaligen – Stasi-Gebäude, am Rathaus, am Bahnhof entlang und zurück. Witzige Transparente werden belacht. Die Republikaner und die Nationaldemokraten mit ihrem Flugblatt-, Aufkleber- und Kuli-Stand sorgen etwas für Unruhe. Auf einem erhöhten Absatz stehen drei junge Männer, halten die Rep-Fahne hoch. Gemeinsam mit den SED-Leuten ernten sie nur den Ruf: „Ihr seid das Letzte“, so lange, bis sie freiwillig herunterkommen. Das Flugblatt in der Hand erkennt man schon am Papier, woher es kommt. Erstaunlich viel West.

Immer wieder Einheitsrufe. Immer wieder stolpern wir über kaputte Strassenbahnschienen. Einer zeigt hinunter und ruft: Das hat uns unser Staat vermacht. Andere lachen nur. Gute Stimmung. Nach zwei Stunden verläuft es sich wieder – ohne Kundgebung. Abschied von unseren Leipzigern. Versprechen, sie mal nach Tübingen zum Konzert einzuladen.

Am Morgen wieder in Stuttgart: die „FAZ“: „100.000 Menschen in Leipzig wieder auf der Strasse, Rufe nach Einheit“. Die „Stuttgarter Zeitung“: auf der Kundgebung wieder Forderungen nach Wiedervereinigung… Berlin überschattet jedoch die Ereignisse in Leipzig: das Stasi-Gebäude wurde von Demonstranten gestürmt.

Zum ersten Mal bemerke ich einen merkwürdigen Duft in der Luft: Diesel. Alles so bunt und sauber und neu. Wieder daheim.

Ein Monat später

Freunde von uns waren in Leipzig. Kohl war in Moskau. Die Einheit ist geritzt. Die Demo läuft brutal ab. Reps auf Balkonen werfen mit Flaschen nach Demonstranten. Schlachtfeststimmung. In der Strassenbahn wird eine Punkerin mit roten Haaren von Neonazis zusammengeschlagen. Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entsteht. Ehemalige Stasi- oder SED-Leute müssen in der Tram hinten einsteigen. Auf der Litfaßsäule sind alle kleinen handgeschriebenen Zettel von grossen CSUDSU-Plakaten zugekleistert. Wahlkampf. Es geht um die Einheit.