Diplom 1995: „Identität und Wahrnehmung bei Ida von Hahn-Hahn und Ida Pfeiffer anhand ihrer Orientberichte“ (PDF)
Eine literatursoziologische Analyse zweiter Orientreise-Berichte aus dem 19. Jahrhundert.
Im 18. und 19. Jahrhundert begannen immer mehr Europäerinnen in ferne Länder zu reisen und berichteten davon in ihren vom Publikum neugierig aufgenommenen Reiseberichten. Diese geben Aufschluß über fremde Menschen und ihre Kulturen, aber auch über die Selbstwahrnehmung der Reisenden. Darüberhinaus stellen sie als literarische und historische Dokumente, die erst seit Anfang der 80er Jahre die wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregen, ein wichtiges Zeugnis europäischer und weiblicher Geschichte dar.
Meine Studie richtet ihr Hauptaugenmerk auf die Berichte von Ida Pfeiffer und Ida von Hahn-Hahn über ihre Orientreise. Als deutschsprachige Reiseschriftstellerinnen sind sie bisher Gegenstand von marginalen Erwähnungen, Aufsätzen und Dissertationskapiteln gewesen. In englischsprachigen Lexika oder größeren Abhandlungen wird unter allen deutschsprachigen Reisenden nur Ida Pfeiffer erwähnt als „first full-time woman traveller of all“. Pfeiffer war als Reisende weltberühmt, Ida von Hahn-Hahn hingegen war im deutschsprachigen Raum die damals wohl bekannteste Schriftstellerin. Von ihrer Orientreise schrieb Hahn-Hahn Briefe an Verwandte und Freundinnen, die sie erst nach einem Vorabdruck in den Zeitungen als „Orientalische Briefe“ – vermutlich nach dem Vorbild der „Letters from the East“ von Lady Mary Wortley Montagu benannt – 1844 veröffentlichte. Im selben Jahr entschloß sich auch Ida Pfeiffer, damals noch ein „unbeschriebenes Blatt“, auf „vieles Zureden meiner Freunde“ ihren ersten, lediglich leicht redigierten, teilweise tagebuchartigen Reisebericht anonym als „Pilgerfahrt einer Wienerin in das Heilige Land“ zu veröffentlichen.
Hahn-Hahn und Pfeiffer reisten mit wenigen Monaten Abstand in den Jahren 1842/43, beide nahmen beinahe dieselbe Route, ohne jedoch voneinander zu wissen. Ihre Berichte unterscheiden sich in ihrem Stil und in ihrer zugrundelegenden Wahrnehmung sehr. Beide Frauen stammten aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten: Ida Gräfin von Hahn-Hahn aus dem Hochadel Mecklenburgs, Ida Pfeiffer aus dem kaufmännischen Bürgertum Wiens. Da beide in ihrer Zeit berühmt und viel gelesen waren, können ihre Berichte durchaus als Zeugnis ihrer Zeit gewertet werden und müssen daher im literarischen und zeitgenössischen Kontext betrachtet werden.
Da beide Frauen offenbar so unterschiedlich sind, stellt sich die Frage nach einem gemeinsamen Nenner. Dieser ist die gemeinsame Herkunftskultur: der christliche Okzident. Deshalb soll in dieser literatur- und kultursoziologischen Untersuchung der Reiseberichte Hahn-Hahns und Pfeiffers die Wahrnehmung des Anderen beispielhaft aufgezeigt werden. Einen aktuellen Rahmen bietet die Beobachtung, daß kulturelle und religiöse Identitäten bei der Entstehung von Konflikten, Kriegen und Migration eine zunehmend große Rolle spielen. Der Rückzug auf traditionelle Werte, Normen und Regeln der eigenen Kultur führt zumeist zu scharfen Abgrenzungen gegenüber anderen Kulturen. Prognosen behaupten, zukünftige fundamentale Konflikte entstünden vor allem zwischen dem Westen und den islamischen und konfuzianischen Staaten, d.h. dem Orient.
Deshalb zieht sich die folgende Frage wie ein roter Faden durch die Untersuchung: Wie sehen wir die anderen, was konstituiert unsere Wahrnehmung? – Die Frage nach der Wahrnehmung ist auch eine nach Rollenverständnis und Identität.