Bitte Kiper durch „Notz“ und Trittin durch „Habeck“ ersetzen und dann auf „Reset“:
Die Bündnisgrünen verabschieden sich von der Internet-Politik. Vergangene Woche kippten die niedersächsischen Grünen ihren wichtigsten Internet-Politiker aus dem nächsten Bundestag.
Aus: Spiegel Online – 21/1998, 18. Mai 1998
Von CHRISTIANE SCHULZKI-HADDOUTI.
Für politische Beobachter kein ungewöhnlicher Vorgang: Neue Bundestagsabgeordnete kommen, arbeiten brav in den Ausschüssen mit, halten – mit Glück – ein, zwei Reden, geben Interviews in regionalen Tageszeitungen und einigen Fachblättern, und nach einer Legislaturperiode sind sie auch schon wieder verschwunden. Wen stört das schon? – In diesem Fall offensichtlich niemanden: Vorstandssprecher Jürgen Trittin sicherte sich einen guten Listenplatz und verdrängte damit den einzigen grünen Internetpolitiker im Bundestag, Manuel Kiper, auf eine praktisch aussichtslose Position. Höchstwahrscheinlich ist Kiper also im nächsten Bundestag nicht mehr vertreten. Dabei war und ist Kiper der einzige halbwegs prominente Grüne, der sich um die Belange des Internet kümmert. Er zeigt im Telekommunikationsausschuß und in der Enquête- Kommission „Zukunft der Medien“ Flagge, wenn es um die Kryptofrage, um Bürgerrechte von Netizens oder um das wirtschaftliche Überleben kleiner und mittlerer Diensteanbieter geht.
Kiper war es, der als erster Bundestagsabgeordneter in einer großen Anfrage das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) durchleuchten ließ. Während die SPD noch darüber beriet, ob die Frage der Schlüsselhinterlegung nicht doch gesetzlich geregelt werden sollte, hatte der forschungspolitische Fraktionssprecher der Bündnisgrünen schon längst gegen Key Escrow eine eindeutige Position bezogen. Nicht zuletzt seinem Einsatz ist es zu verdanken, daß im Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG) auf die Forderung verzichtet wurde, Provider müßten die persönlichen Daten ihrer Nutzer bei Verdachtsmomenten an die Strafbehörden weiterleiten. Er war es, der bei der Verabschiedung des Begleitgesetzes zum Telekommunikationsgesetz die Abgeordneten darauf hinwies, daß nun per Gesetz sogar jede Wohngemeinschaft, die am Monatsende ihr Telefon abrechnet, „geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringt“ und somit zu Überwachungsdiensten verpflichtet werden kann. Er zeigte auf, daß Abhörbefugnisse seit 1995 systematisch erweitert wurden und nicht, wie die Bundesregierung behauptet, lediglich an den liberalisierten Telekommunikationsmarkt angepaßt. Kiper forderte als einziger nach dem spektakulären T-Online- Hack eine gesetzliche Nachbesserung, damit Online- Dienste für beim Kunden durch unsichere Software verursachte Schäden haften müssen.
Vor einer Woche verteilten die niedersächsischen Grünen die Listenplätze. Kiper landete auf dem nahezu aussichtslosen 6. Platz. Inhaltliche Fragen spielten bei der Entscheidung keine Rolle, viel wichtiger war den Parteimitgliedern die klassische Links-Rechts- Konfrontation: Einem fundamentalistischen Protagonisten, dem Parteisprecher Jürgen Trittin, auf dem zweiten Platz wurde ein rechter Realo, Helmut Lippelt, auf dem vierten Platz gegenübergestellt. Den Rest besetzten Frauen. Entscheidend war nicht die Frage der Sachkompetenz und der richtigen Themenbesetzung im Bundestag, sondern parteitaktisches Kalkül: Funktionär Trittin gilt als „ministrabler Kandidat“. Als prominentes Vorstandsmitglied spielte er bei der Listenbesetzung eine derart unumstrittene Rolle, daß er „baff“ war, als Kiper seine weitere Kandidatur anmeldete. Kiper repräsentiert hingegen eher eine pragmatische Schiene, vertritt Unternehmensgrüne. Seine Position im Rechts-Links-Grabenkampf ist damit zu schwach, bei der Listenplatzverteilung wurde er als Top-Kandidat nicht einmal in Erwägung gezogen.
In der Innenwahrnehmung der Partei spielen Kipers Themen, Informations- und Kommunikationstechnologie (IuK) sowie Gentechnik, keine Rolle. In diesen Bereichen existierte bei den Grünen bis vor kurzem allein die klassische Reaktion: Totalverweigerung. 1996 sorgte Kiper dafür, daß der vorgesehene IuK-Beschluß – Motto „Boykott und Ausstieg“ – gekippt und durch ein gestaltendes IuK- Programm ersetzt wurde. 1998 erreichte er in Magdeburg den Gentechnikbeschluß, der eine realistische Risikoabschätzung vorsieht und von dem sattsam bekannten Generalveto abrückt. Eigentlich schöne Erfolge – doch in der bündnisgrünen Realität weiß man sie nicht zu würdigen. Deutliches Indiz für die wahre Bewertung von „Internet“ und „Gentechnik“ ist das Wahlprogramm: Eine halbe Seite durfte das Bundestagsbüro von Kiper liefern – lediglich ein Satz überlebte.
Das Thema „Internet“ hat für die Bündnisgrünen schlicht keine Bedeutung. Joschka Fischer stöhnt zwar darüber, daß es bei den Grünen unerkannt viele „technikversessene Internet-Benutzer“ gäbe, doch es wird nichts unternommen, um grüne High-Tech-Positionen der Öffentlichkeit zu vermitteln. Nichts wird getan, um einen Dialog zwischen Basis, Abgeordneten und Parteispitze via Internet zu organisieren. Es gibt nicht einmal eine eigene Newsgroup. Allein ein Blick auf die Homepage der Bündnisgrünen offenbart, was sie vom Medium begriffen haben: herzlich wenig. Ein Wust von Presseerklärungen, Bundesdrucksachen und anderen Texten wurde hier fein säuberlich archiviert – von multimedialer Interaktion wenig Spur. Die Konsequenz ist fatal: Beim Wähler steht Grün für Umweltschutz, höheren Benzinpreis und Müllrecycling. Doch auch das wird in der Listenaufstellung nicht mit einer Konzentration von grünen Kernkompetenzen quittiert: Im Gegenteil: Gleich drei bündnisgrüne Abgeordnete wollen sich im nächsten Bundestag in Sachen Außenpolitik profilieren: Fischer, Lippelt und Trittin. Nach dem Abgang von Elisabeth Altmann, die sich um die Hochschulen kümmerte und ebenfalls auf einem nahezu aussichtslosen Listenplatz landete, wird Forschungspolitik künftig wahrscheinlich nur noch von Simone Probst vertreten. Ihre Schwerpunkte: Atomtechnologie, Weltraumtechnologie und Umwelttechnik. Unwahrscheinlich, daß sie sich bei dieser Themenfülle auch noch für Gentechnologie und Internet engagiert.
Kaum einer weiß, daß die Bündnisgrünen im Bundestag IuK-Politik betreiben. Zu dumm, daß nicht einmal die Parteimitglieder dies zur Kenntnis genommen haben. Politische Gegner und Freunde hingegen wissen Kipers Arbeit zu schätzen: In der Enquête-Kommission „Zukunft der Medien“ hält die CSU die Bündnisgrünen für „kompetent und engagiert“. Die SPD, in Sachen Internet vertreten vor allem durch das Büro des Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss, arbeitet regelmäßig mit den Bündisgrünen zusammen – Teile des grünen Thesenpapiers fanden sogar fast wortgleich Eingang in entsprechende SPD-Positionen. Fraktionsübergreifend wurden Themen hochgezogen, Berichte geschrieben, Gesetzesentwürfe der Bundesregierung durchleuchtet und kommentiert. Das Tandem Tauss/Kiper funktionierte erfolgreich: Politische Trends konnten gesetzt werden, da sie aus zwei Lagern lanciert wurden.
Wenn demnächst die IuK-Politik von den Grünen nicht mehr besetzt sein wird, werden es auch die „Internetfreunde“ innerhalb der SPD schwer haben, sich gegen Rechts durchzusetzen. Gibt es keinen massiven Widerstand gegen ein Kryptogesetz mehr, wird sich Jörg Tauss innerhalb der SPD kaum gegen die eigenen Innenpolitiker durchsetzen können. Hinzu kommt das sattsam bekannte Kommunikations- und Akzeptanzproblem: Kryptographie ist für die meisten Abgeordneten ein zu technisches Thema – „Innere Sicherheit“ hingegen läßt sich auch gegenüber dem Wähler wesentlich einfacher vermitteln. Ob die nur schwach organisierte Lobby der Informations- und Kommunikationsbranche dann noch die Abgeordneten eines Besseren belehren kann?
Die Grünen, die einst mit dem hehren Anspruch in der politischen Arena angetreten waren, Politfilz und Seilschaften zu bekämpfen, scheinen sich allmählich von ihren ethischen Grundsätzen zu verabschieden. Einst sorgte das Rotationsprinzip dafür, daß sich die Bundestagsabgeordneten nicht allzuweit von der Basis entfernten. Doch erkannte man damals schnell, daß das eine erfolgreiche Arbeit in den Ausschüssen und Anhörungen eher behinderte. Heute ersticken Polit-Funktionäre jede lebendige Auseinandersetzung und gieren nach Bonner Ministerämtern. Trittin verhinderte, daß das Grundsatzprogramm rechtzeitig genug erstellt wurde, um noch eine vernünftige Diskussion zu ermöglichen. Strategische Ziele wurden erst ungeschickt propagiert und dann ebenso unbeholfen wieder dem wahltaktischen Kalkül geopfert: Stichwort „Benzinpreis“.
8,5 Prozent der Wähler müßten im Herbst für die Bündnisgrünen stimmen, damit Kiper wieder in den Bundestag käme. Doch das wäre zum jetzigen Zeitpunkt ein Traumergebnis. Selbst zu ihrer besten Zeit im Jahre 1987 erreichten die Grünen nur 8,3 Prozent, bei den letzten Bundestagswahlen waren es 7,3 Prozent. In der Wählergunst befindet sich die Partei seit den Magdeburger Beschlüssen im freien Fall. Falls die Grünen überhaupt wieder in den Bundestag einziehen, werden die Netizens aller Wahrscheinlichkeit nach noch weniger politischen Beistand haben als bisher.