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Amnesty International spricht von Wikileaks als Katalysator in der arabischen Revolution

In Großbritannien hat Amnesty International seinen Jahresbericht 2010 vorgestellt und schreibt darin Wikileaks eine Katalysatoren-Rolle in der arabischen Revolution zu. Julian Assange hatte dies bereits Anfang April in einem Interview mit „The Hindu“ behauptet. Der Bericht ist online noch nicht verfügbar. Zitiert wird im Guardian der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shetty:

„The year 2010 may well be remembered as a watershed year when activists and journalists used new technology to speak truth to power and, in so doing, pushed for greater respect for human rights.“  (…) „It is also the year when repressive governments faced the real possibility that their days were numbered.“

Über die Wikileaks-Enthüllungen sagt er:

„It took old-fashioned newspaper reporters and political analysts to trawl through the raw data, analyse it, and identify evidence of crimes and violations contained in those documents.“

„Leveraging this information, political activists used other new communications tools now easily available on mobile phones and on social networking sites to bring people to the streets to demand accountability.“

Interessanterweise ist in der deutschen Pressemitteilung zum Jahresbericht von Wikileaks keine Rede.

Die Rolle von Wikileaks ist umstritten – und die Frage der wohlfeilen Geschichtsklitterung steht im Raum. In der Diskussion in den letzten Monaten ging vor allem darum, welchen Anteil die Enthüllungen an den Aufständen in Tunesien hatten. Jilian C. York von der EFF schrieb im Januar skeptisch:

By all Tunisian accounts, WikiLeaks had little–if anything–to do with the protests; rather, the protests were spurred by unemployment and economic woes.  Furthermore, Tunisians have been documenting abuses by the Ben Ali regime and the first family for years, as Zuckerman notes.  In fact,  Dickinson seems to realize this herself, and yet for some reason still attempts to argue that WikiLeaks was a catalyst in the unrest.

York bezieht sich mit ihrer Kritik auf einen Pro-Wikileaks-Beitrag von Elizabeth Dickinson in Foreign Policy. Sie schrieb:

WikiLeaks acted as a catalyst: both a trigger and a tool for political outcry.

(…) the details noted in the cables — for example, the fact that the first lady may have made massive profits off a private school — stirred things up. Matters got worse, not better (as surely the government hoped), when WikiLeaks was blocked by the authorities and started seeking out dissidents and activists on social networking sites.

Jewgeni Morosow zeigte sich, was die Wirkung von Social Media anbelangt, in Foreign Policy ebenfalls skeptisch, legte jedoch einen an den Massenmedien orientierten Erfolgsmaßstab an – und ignorierte Wikileaks:

What strikes me about events in Tunisia is that social media seems to have failed in what many of us thought would be its greatest contribution (outside of social mobilization) – that is in helping to generate and shape the coverage of events in the mainstream media. On the contrary, despite all the buzz on Twitter it took four weeks to get the events in Tunisia on the front pages of major newspapers, at least here in the US (the situation in Europe was somewhat better – and it was way better in the Middle East – for all the obvious reasons).

Andrew Sullivan fand Jewgeni Morosows Ansichten in seinem The Atlantic-Blogbeitrag etwas merkwürdig.

This is an odd standard. The core test is whether Twitter and online activism helped organize protests. It appears they did, even through government censorship. Wikileaks also clearly helped.

In einem Gespräch mit dem Montagsradio äußert sich Asiem El Difraoui von der Stiftung Wissenschaft und Politik über Wikileaks ab 52:00. El Difraoui sagt, er habe ein gemischtes Gefühl gegenüber Wikileaks, da Diplomaten auch Tacheles reden dürften. Man hätte auch vieles schon erahnen können, was aus den Depeschen herauskommt. In Sachen Tunesien fände er Wikileaks aber „einfach super toll“. Das tunesische Volk hätte es schon immer geahnt, aber keiner hätte es fest machen können. Vormals „vage Behauptungen“ wurden jetzt aber auf einmal „von hochoffizieller Seite bestätigt“, wie korrupt die herrschende Elite ist. Konkret ging es um die McDonalds-Konzessionen. Ben Ali wollte McDonalds nicht in Tunesien, da es so ungesund sei. Bei diesen Hindernissen müsse man gut überlegen, wen man schmieren müsste, um die Konzessionen zu erhalten. El Difraoui glaubt, dass auch Enthüllungen über saudische Prinzen kritisch werden könnten. Bahrain mit seiner unterdrückten schiitischen Mehrheit sei ebenfalls in einer labilen Position.

Es gibt auch die Position, dass es vor allem die Selbstverbrennung des jungen Obsthändlers Mohamed Bouazizi war, die die tunesische Revolution ausgelöst hat, dass es die drückende Verteilungsungerechtigkeit innerhalb des Landes war. Meiner Wahrnehmung nach war dies auch in Al Jazeera und anderen arabischen Medien wichtiger, die Depeschen wurden in den ersten Wochen nicht in dem Maße zitiert. Eric Schlechter schreibt auf der Website des Carnegie Council:

„People have known about the corruption for two decades, and certainly knew much more than was in WikiLeaks,“ says Taoufiq Ben-Amor, an Arabic Studies lecturer at Columbia University. „What triggered this really is a young man who set himself ablaze, and 23 years of oppression and corruption.“

(…)

Now, to be fair, the WikiLeaks cable release did precede the Tunisian protests by a little over a week. And as events unfolded, Qaddafi—soon to face demonstrations against his own regime in neighboring Libya—blamed the pro-transparency group for stirring things up.

Schlechter denkt, dass der Guardian einen wesentlichen Anteil daran hat, dass Wikileaks im Rückblick eine große Rolle zugeschrieben wird:

As proof, the British paper cites the observations of an unidentified activist, who writes the following on an opposition website: „And then, WikiLeaks reveals what everyone was whispering. And then, a young man immolates himself. And then, 20 Tunisians are killed in one day.“

Bis heute gibt es jedoch keinen Beleg dafür, dass Bouazizi die Wikileaks-Depeschen gekannt hat. Angesichts der kurzen Vorlaufzeit sowie der digitalen Kluft in Tunesien ist das eher unwahrscheinlich. Auch gibt es die bislang unbelegte These, dass die führende Klasse den Depeschen entnehmen konnte, dass die USA das Regime nicht grenzenlos unterstützen würden.

Schlechter führt dafür ein anderes Beispiel aus Zimbabwe an, in dem der Einfluss von Wikileaks bzw. des Guardian wirklich eindeutig ist:

On December 8, TheGuardian published another scandalous diplomatic cable obtained by WikiLeaks. This one revealed that Prime Minister Morgan Tsvangirai, leader of the Zimbabwean democratic opposition, secretly endorsed sanctions against his own nation in order to force strongman Robert Mugabe to share political power.

Needless to say, the Mugabe-led government went after Tsvangirai, who had already been arrested many times before. On December 26, the attorney general launched an inquiry of the prime minister, the charge: treason. Writing in The AtlanticChristopher Albon has said that it is unlikely that Tsvangirai will be convicted, but the leaked cable is a definite setback for democratic forces in the country.

Sicherlich hat Wikileaks eine gewisse Wirkung, da die arabischen Medien die Depeschen für ihre Berichterstattung verwendet haben. Das Vorbild Wikileaks könnte in Ägypten auch Bürger ermutigt haben, Dokumente, die im Staatssicherheitsministerium erbeutet wurden, im Netz, u.a. auf Facebook, zu veröffentlichen. Unbestritten ist, dass Dinge enthüllt wurden, die bislang nur geahnt wurden. Und dass diese Transparenz nach Jahrzehnten der manipulierten Presse etwas befreiendes hatte. Der Begriff des „Katalysators“ ist vielleicht daher richtig, der des „Auslösers“ aber falsch.

Wikileaks-Enthüllungen in arabischen Ländern gemappt

Die libanesische Tageszeitung Al-Akhbar aktualisiert auf einer interaktiven Karte, welche US-Depeschen sich auf welche Orte beziehen. Ein Klick führt zu den ins Arabisch übersetzten Depeschen.

Eine Einschätzung zu Al-Akhbar liefert Lea Müller-Funk im Alsharq-Blog. Sie meint, dass es die Veröffentlichungen von Al-Akhbar waren, die laut Assange den Zündstoff für die tunesische Revolution geliefert haben. Es wurde auch schon beobachtet, dass Al-Akhbar wohl exklusiven Zugriff auf das Konvolut haben muss, da es im Dezember 2010 183 Depeschen veröffentlichte, die nicht von den „Big Five“ zuerst bearbeitet und auf der Wikileaks-Website veröffentlicht worden waren.

Neben den ursprünglichen fünf Redaktionen, – dem Guardian, Le Monde, El Pais, Guardian und New York Times – haben neben Al-Akhbar inzwischen die norwegische Tageszeitung Aftenposten, die deutsche Tageszeitung Die Welt, die indische Tageszeitung The Hindu auch die israelischen Tageszeitungen Jediot Ahronot und Haaretz Zugriff auf das Konvulut.