Nachgeschmack

Der zehnte Tag, 10. August 1991

Muscheln in meiner Hand… Blaß rosafarbene Gehäusesplitter von herangespülten Krabben und Krebsen liegen zwischen schwarzem, halbtrokenem Seegras. Große, feste Nordatlantikmuscheln in großzügigen Mustern vor großen schwarzen Miesmuschelbänken. Sie glitzern freigelegt von der zurückweichenden Flut. Wie kleine Kieselsteine ragen die kleinen Muschelrücken aus dem Sand. Wie weit entfernte Walrücken tauchen sie aus dem windstillen Gewässer auf. Manches Schiff versank vor Cape Cod, sei es durch Sturm, sei es durch Seeräuberei. Henry David Thoureau wanderte tagelang an den Küsten des Capes entlang, untersuchte Pflanzen und angeschwemmte Bruchteile. Ausgelaugte Bohlen, angeschwemmte Glühbirnen, ausgefaserte Seile und lose Taue. Plastikkanister und grüne Flaschen. Edward Weston fand seine Frau von den Wellen bespült als wundersames Strandgut, von den Wettern ihm geschenkt. Auf Silberbrom fing er sie körnchengenau auf einer großen Platte ein. Ein wundersamer Fund unter gebleichten Wrackteilen und goldbraun scheinen den Chininstückchen.

Weil es so heftig regnet, wird auf eine Parkgebühr von acht Dollars verzichtet. Wir können uns einen Besuch auf der Orleans Beach leisten. Ein hölzerner Steg führt über sanfte Sanddünen zur See. Einige kommen uns entgegen, die Regenkappen tief über das Gesicht gezogen. Ein kleiner Junge mit seinem Flugdrachen. Eine Familie mit bunten sneakers. Auf dem Str and packen zwei zehnjährige Jungen ihre Surfbretter wieder ein. Für ein Foto holen sie ihre Bretter vom Dünenrand und stellen sich für mich noch einmal gemeinsam, die Bretter stolz und aufrecht in den Sand gedrückt, direkt vor den Wellen auf. – Gern gesche hen. You’re welcome. – Ein Coast-Guard steht mit seinem Jeep vor den Dünen und beobachtet das Meer. Ich laufe in den Bereich ohne Wachturmstelzen. Die Fußspuren kehren um, verschwinden im lockeren Sand. Kaum einer begegnet mir. Alles vernebelt, diesig. Salzige Gischt auf der Haut laufe ich barfuß durch den kalten, sanft nachgebenden Sand. Fotos unmöglich. Der Wind drückt die Jacke an den Körper und reißt die Ärmel mit sich. Rhythmisch heranrollende Wellen, die sich in den letzten Metern heftig und kompakt überschlagen, weiß aufschäumend den matten Sand aufätzen, weiße kleine Blasen hinterlassen. Die Wellen graben sich wütend in den Strand. Sie höhlen und brechen die Sandmassen aus dem Boden heraus. Eine Weile und dann stürzt eine hohe Welle heran. Verwischt vorwitzige Fußspuren, um wie prasselnder Regen zerschmetterte Muschelteilchen zu sich zu nehmen. Zerissene schwarze Meeresschlangen winden sich in Bündeln auf dem Boden und tauchen in der nächsten Welle kurz unter. Kleine, nasse dunkle Blätter verteilen sich. Am Dünenrand werden sie grauer und blasser. Leichter und verletzlicher vereinigen sie sich zu einem nassen schweren Polster. Von einer angefressenen Düne fallen zerbrechliche, von Wasser und Salz grau ausgelaugte Holzgatter herab. Vom Sand fast verschl ungen, richten sie sich wankend wieder auf, um erneut in einer unsicheren Drehung nach unten zu verschwinden. Ein Schlußakkord taucht auf, fächerartig in sich gekehrt spreizt er sein grausilbernes Gefieder. Zwei Holzplanken fallen erschöpft zu Boden, bedecken einander kaum am moosbesetzten Rand. Die äußersten Spitzen berühren knapp das gebogene Gras.

Den Sonnenuntergang wollen wir an der Forellenbeach einholen. Die Straße führt uns auf gewundenen Wegen zurück zur Hauptstraße und diese bis kurz vor Provincetown. Eine Savanne erstreckt sich östlich der Stadt und schimmert rosagolden im Abendlicht. Wir übertreten die Höchstgeschwindigkeit und erreichen die Sonne knapp über dem Wasser. Doch ist die Sonne über der anderen Inselspitze zu sehen, an der anderen Beach. Die Sturmwolken ziehen hinter den Feuerball und die Grillen erobern den dunkel werdenden Himmel, das Meer verschwindet hinter einem diesig dunklen Horizontstreifen. Ameisen transportieren die Verletzten des Tages ab. Zirpen untermalt den roten Lichtbogen.

Das Meer ist weit draußen. Ich laufe fast eine halbe Stunde hinaus, um etwas herumzuplanschen. Der Sand ist groß und körnig. Er rieselt durch die Zehen und setzt sich schwer auf den Fuß. Mit jeder Welle ziehen die Füße in den festen Untergrund. Schwere und unbezwingbare Burgen mit groben, runden und großen Zinnen, umgeben von grandiosen Wassergräben. Geheime Tunnel stürzen wieder ein und mögliche Rettungswege bleiben verschüttet. Vor dem Burgtor warten, auf kleine Stäbe gesteckt, geriffelte Muschelrundköpfe auf den Helden, der die rettende Flut in den Burggraben einläßt. In der flachen Spätnachmittagssonne glitzern die Muschelbänke dunkel über den wassergerippten Sandstreifen. Ein blaßblauer Himmel spannt sich über dem ruhigen Meer. Keine Erinnerungen an ausgespülte, abgetragene Uferböschungen. Ausgebleichte Holzgatter kreisen den Sand ein und halten die Dünen im Zaun. Die Zügel schon locker nachgebend, läßt der Sand sich in kleinen Hügeln durch den Draht auf den flachen Strand. Dann und wann versinkt der Stacheldraht im Untergrund und läßt kleine zackige Markierungen auf der Oberfläche zurück. Ein Pfosten taucht auf und weist auf die ruhige, doch leicht gekräuselte Wasserfläche vor sich. Dünnes, hellgrünes Silbergras schneidet in ungeschickte Finger und hinterläßt kreisförmige dünne Runen auf dem Sand. Der Wind biegt die Spitzen herab. Sie tanzen in farbigen Muschelkörnchen und glitzernden Quarzsplittern.

Es wird frisch und kühl. Wir packen zusammen, ziehen uns an. Die salzige Haut reibt etwas und die Haare lassen sich in steife Formen drücken. Wir fahren zur Strandsteppe und finden sie rot zwischen den sanft hinabgeneigten Kiefernästen. Vögel tönen von einem Baum zum anderen, die Kaskaden der Grillen setzen kurz aus. Unvermittelt beginnen sie nach einer Atempause ihr Reiben. Die Ameisen kämpfen sich sengend und brennend den verbarrikadierten Weg frei. Die Bisse brennen noch am nächsten Morgen.